Das ist eine Straße in Tarlabaşı, einem Kiez von Beyoğlu in Istanbul. Es genzt im Osten an den berühmten Taksim-Platz. Meine Kommilitonin, Freundin und Mitbewohnerin Leoni wohnte dort für ein halbes Jahr, worauf die meisten, die sich ein wenig mit Istanbul auskennen, eher bestürzt reagieren. “Tarlabaşı? Oh…”
Tarlabaşı ist ein Viertel, das schon seit Jahrzehnten für segregiertes Wohnen steht. Zunächst waren Griechen die Bewohner des Viertels, dann wurden sie vertrieben. In den darauf folgenden Jahren zogen vor allem Kurden ein. Mittlerweile dient das Viertel allerdings für alle möglichen Menschengruppen, die in der Stadt sonst keinen Platz finden – Roma, Flüchtlinge aus afrikanischen Ländern, Transvestiten…
Sie übernehmen Aufgaben in der Stadt, sind also fest verwoben mit dem Alltag in Istanbul. Hier leben beispielsweise diejenigen, die mit riesigen Karren durch die Stadt ziehen und Müll aufsammeln – “Müllmänner” werden sie genannt. Tatsächlich sind sie aber Recycling-Männer, da sie Müll trennen und dabei auf der Suche nach Wertstoffen sind, die sie weiterverkaufen können.
Abends kehren sie in das Viertel zurück, durch welches mittlerweile keine Polizeistreife mehr fährt, wie man es sich erzählt. Überhaupt spielt der Narrativ über Tarlabaşı eine wichtige Rolle für die Entwicklung des Viertels. Er lautet: “Tarlabaşı ist ein enorm gefährliches Viertel, in welchem es eine hohe Kriminalitätsrate gibt. Man kann dort nicht mehr ein- und ausgehen ohne ausgeraubt zu werden. Nicht einmal die Polizei traut sich noch hinein! Die Häuser sind marode und müssen dringend saniert werden, damit die Menschen wieder in sicheren Häusern leben können. Also kaufen wir den Bewohnern und Bewohnerinnen die Häuser ab und sanieren sie, damit das Viertel wieder lebens- und liebenswert wird.”
De facto passiert folgendes: Die Bevölkerung soll ausgetauscht werden.
Die Häuser wurden zu einem lächerlichen Preis verkauft. Die Sanierungskosten werden um ein vielfaches wieder eingespielt, sobald sie weiterverkauft werden. Um die verkauften Häuser wurde ein Blechzaun errichtet. Ab und an kann man hindurch lugen und sieht Familien, die im schmalen Bereich zwischen Hauswand und Zaun zu leben scheinen. Es ist höchst unrealistisch, dass auch nur eine einzige der Familien nach der Sanierung zurückkehren kann oder wird. Leoni meinte zu mir, dass die meisten Bewohner eher den Weg wählten, das Haus zu verkaufen – wenn auch für einen niedrigen Preis – als in Tarlabaşı zu bleiben.
Eine andere Freundin, die in Istanbul lebte erzählte mir von einem Kunstprojekt, das einige Studierende in Tarlabaşı verwirklichten. Dafür “besetzten” sie eines der Häuser und installierten Ausstellungsräume. Die Räume wurden von Bewohnern wiederholt angegriffen, ausgeraubt, zerstört, einige verrichteten sogar ihre Notdurft darin. Die Studierenden waren sich über die politisch aufgeladene Stimmung des Viertels und der politischen Botschaft ihres Plans nicht bewusst. Sie haben es sicher gut gemeint.
Angeblich stehen diese Zäune seit mehreren Jahren dort. Genaueres weiß ich nicht. Vielleicht ist es im Moment einfach unmöglich, ein derartigen Bauvorhaben überhaupt zu beginnen, ohne eine Katastrophe im Ausmaß der Proteste auf dem Taksim-Platz heraufzubeschwören. Oder es wird gewartet, bis sich der Immobilienmarkt in Istanbul weiter aufgeheizt hat und der größtmögliche Profit daraus geschlagen werden kann. Wenn das Viertel wieder liebenswert ist.
Mehr Hintergrundinformation: “Gentrifizierung in Istanbul” (taz.de)
Update: Leoni wies mich darauf hin, dass die Recycling Männer die Wertstoffe direkt an die Industrie weitergeben und nicht verkaufen. Darüber hinaus ziehen nicht “Die Meisten” weg, sondern wenige. Die Vertreibung erfolgt eben gerade nicht plötzlich und sichtbar, sondern schleichend.